Was du alles kannst

Es klingelte zum Schulschluss. Endlich! Hastig packte Minna ihre Sachen zusammen und stürmte als Erste aus der Klasse.

 

„Hey, Minna“, rief ihre Freundin Sofie ihr hinterher, „wollen wir heute …?“ Der Rest des Satzes wurde vom Lachen und Lärmen dutzender Kinder verschluckt, die aus ihren Klassenräumen in den Schulflur strömten. Aber was auch immer Sofie gefragt hatte: Nein danke, Minna wollte nicht, und schon gar nicht heute!

 

Aufgewühlt drückte sie das Schultor auf und rannte hinaus auf die Straße. Sie war so wütend! Und enttäuscht! Die Welt war einfach ungerecht.

 

An der Kreuzung nahm Minna den schräg über die Wiese führenden Trampelpfad. Inzwischen war sie ganz schön aus der Puste. Keuchend verlangsamte sie ihre Schritte. Es war nicht mehr weit.

 

Und dann war sie auch schon da. Vor ihr stand Günter, in seiner ganzen Pracht. Günter war ihr bester Freund. Aber das durfte niemand wissen, nicht mal Sofie. Denn Günter war ein Baum. Ein großer, uralter Kastanienbaum, der einsam in der hügeligen Landschaft wuchs. Von hier aus konnte man nicht ein einziges Auto sehen. Nur wenn sie ganz oben in Günters Baumkrone kletterte und ihre Brille aufsetzte, konnte Minna die nächstgelegene Straße überhaupt erkennen.

 

Es war ein wunderbarer Frühlingstag im April. Günters grüne Blätter waren mit zahlreichen weißen Blüten geschmückt. Aber Minna hatte kein Auge dafür. Erschöpft vom schnellen Laufen warf sie ihren Ranzen ins Gras und setzte sich, mit dem Rücken an Günter gelehnt, daneben. Und dann flossen die Tränen.

 

In der letzten Stunde hatten sie Erdkunde bei Frau Paulisch gehabt. Minna hatte nach vorne gemusst, Städte und Flüsse an der Karte zeigen. Und das, obwohl Frau Paulisch gesagt hatte, dass sie das erst nächste Woche in einem schriftlichen Test abfragen würde. Minna hatte protestiert, aber Frau Paulisch kannte bei so was kein Erbarmen. „Das ist doch Grundwissen, Minna! Das sollte jeder hier in der Klasse schon lange beherrschen“, waren ihre Worte gewesen.

 

Minna hatte keine Ahnung, wo Bernau oder Werneuchen lagen. Zwar war sie schon mal am Parsteiner See gewesen, aber woher sollte sie wissen, wo der auf der Karte zu finden war? Sie hatte gesucht und gesucht und war dabei immer verzweifelter geworden. Und jeder hatte es gesehen. Am Ende hatte sie eine glatte Sechs kassiert und sich vor der ganzen Klasse blamiert.

 

Beschämt vergrub Minna das Gesicht in ihren Händen. Sie weinte schluchzend, bis keine Tränen mehr kamen.

 

Minna atmete tief durch. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihre Umgebung. Sie spürte Günters warmen, unebenen Stamm an ihrem Rücken. Die frische Luft, die ihr um die Nase wehte. Das sanfte Rascheln und Rauschen der Blätter über ihrem Kopf. Aber da war noch etwas.

 

„Hey“, wisperte eine raue Stimme.

 

Minna blickte sich um. Weit und breit war niemand zu sehen. Hatte da wirklich jemand „hey“ gesagt?

 

Aber dann hörte sie es wieder.

 

„Hey“, flüsterte die Stimme. „Hey, Minna. Ich bin’s.“

 

Überrascht rappelte Minna sich auf. „Wer ist da?“, fragt sie in die Luft hinein. „Woher kennst du meinen Namen?“

 

Ein leises Lachen, das in ein Murmeln überging: „Ich kenne dich gut, Minna. Du sitzt oft hier unter dem Baum. Ich mag dich, weil du so naturverbunden bist. Aber noch nie habe ich dich so bedrückt gesehen wie heute.“

 

Minna ließ sich nicht ablenken. „Wer bist du? Sitzt du im Baum? Ich kann dich nicht sehen!“

 

„Kein Wunder“, lachte die Stimme, „ich bin ja auch unsichtbar! Und nein, ich sitze nicht im Baum. Dazu bin ich viel zu zappelig. Ich bin der Wind, Minna. Und dieser Baum ist einer meiner Lieblingsplätze. Es macht riesigen Spaß, hier durch die Blätter zu fegen!“

 

Minna staunte nicht schlecht. Der Wind hatte sich noch nie mit ihr unterhalten!

 

„Ich wusste gar nicht, dass du sprechen kannst“, sagte sie verwirrt.

 

„Das kann ich auch nicht“, erwiderte der Wind, „aber das bedeutet nicht, dass du mich nicht hören und verstehen kannst, wenn du willst.“

 

Diese Antwort verblüffte Minna noch mehr. „Du bist doch nur Luft, die sich bewegt“, sagte sie. „Wie kann ich dich denn auf einmal verstehen?“

 

„Was heißt hier ‚nur’?“ Der Wind klang entrüstet. „Ich finde, das ist eine ganze Menge!“

 

„Schon gut“, sagte Minna schnell, „aber warum sprichst du gerade jetzt mit mir?“

 

„Ich habe den Eindruck, dass du heute ein bisschen mehr Rückhalt brauchst als sonst. Sag mir, warum bist du so traurig?“

 

„Ach das …“ Aus irgendeinem Grund hatte Minna keine Lust, dem Wind alles zu erklären. Sie ließ sich zurück auf den Boden plumpsen. „Stress in der Schule“, nuschelte sie. „Aber du weißt wahrscheinlich nicht, wie das ist, wenn man eine dicke, fette Sechs bekommt und die ganze Klasse dabei zuschaut.“

 

„Oh.“

 

Eine Weile schwiegen sie beide. Um Minna herum war es ganz ruhig. Sie blickte nach oben in das dichte Blätterwerk und versuchte, an nichts zu denken.

 

Irgendwann nahm der Wind das Gespräch wieder auf: „Du hast recht, Minna. Ich weiß wirklich nicht, wie das ist. Kannst du mir erklären, warum du das so schlimm findest?“

 

Jetzt musste Minna erst mal überlegen. „Na ja“, sagte sie schließlich gedehnt, „es war so schrecklich peinlich. Und wenn ich nicht gut in der Schule bin, dann wird aus mir später nichts!“

 

„Wer behauptet denn so was?“

 

„Mama hat das gesagt. Und Oma auch.“

 

Der Wind pfiff verächtlich. „Schau mich an. Ich war nie in der Schule. Und trotzdem bin ich Gärtner und Arzt, Kapitän und Musiker …“

 

„Wie denn das?“, wunderte sich Minna.

 

„Ganz einfach“, antwortete der Wind, „ich lasse im Frühjahr die Pollen über die Wiesen schweben und helfe so dabei, dass neue Pflanzen entstehen. Wenn es im Sommer heiß ist, erfrische ich schwitzende Menschen und hechelnde Tiere mit meiner luftigen Brise. Im Herbst schüttele ich die Blätter von den Bäumen und lasse auf den Feldern die Drachen tanzen. Oh, das mache ich ganz besonders gerne! Außerdem helfe ich Segelbooten beim Fahren und Heißluftballons beim Fliegen. Aber am allerliebsten mache ich Musik. Hast du schon mal eine Geisterharfe gesehen?“

 

„Nein, noch nie! Was ist das?“

 

„Das ist ein Instrument, extra für mich. Ich streiche sanft über seine Saiten und entlocke ihm die herrlichsten Melodien. Und mindestens ebenso gern musiziere ich auf Glockenspielen.“

 

„Wahnsinn“, staunte Minna, „was du alles kannst!“

 

„Ja“, sagte der Wind nicht ohne Stolz, „aber weißt du, warum ich das alles mache?“

 

„Nein, warum?“

 

„Weil ich spielen will. Obwohl ich unendlich alt bin, fühle ich mich wie ein junger Hund, der gerade die Welt entdeckt. Egal, ob ich Wetterhähne oder Windräder drehe – es ist alles nur ein Spiel, Minna. Wäsche zu trocknen macht mich genauso glücklich wie Fahnen zum Flattern zu bringen. Ich liebe es, mit meiner Kraft etwas zu schaffen und der lebendigen Natur nützlich zu sein. Aber auch wenn ich mal eine Kerze ausblase und die Menschen schimpfen, mache ich mir nichts daraus. Das gehört dazu. Ich bin eben der Wind. Und das bleibe ich auch, egal, was andere über mich sagen.“

 

Bei den letzten Worten war der Wind immer schwerer zu verstehen gewesen.

 

„Hey“, rief Minna, „kannst du etwas lauter sprechen? Ich kann dich fast gar nicht mehr hören!“

 

„Tut mir leid“, raunte der Wind leise, „es wird Zeit, dass ich weiterziehe. Ganz in der Nähe braucht eine Gruppe Dachdecker dringend eine Abkühlung. Mach’s gut, Minna! Vergiss nicht, was ich dir erzählt habe!“

 

Noch einmal raschelten die Blätter. Dann war alles still. Kein Lüftchen regte sich mehr.

 

Nach einer Weile stand Minna auf und klopfte sich ein wenig trockene Erde von der Hose. „Tschüss, Günter“, sagte sie laut und schlug dabei mit der flachen Hand auf die harte Rinde des Baumstamms. Dann nahm sie ihren Ranzen und trottete langsam in Richtung ihres Elternhauses.

 

Sie fühlte sich etwas dösig, wie nach einem ganz langen Mittagsschlaf. Hatte der Wind tatsächlich mit ihr gesprochen? Na klar, er hatte ihr ja so vieles erzählt, was sie vorher gar nicht gewusst hatte.

 

Erst jetzt fiel Minna die Erdkunde-Sechs wieder ein. Die würde sie beim Abendbrot wohl oder übel ihren Eltern beichten müssen. So war es bei ihnen zu Hause üblich. Manchmal, wenn sie eine schlechte Note heimbrachte, sagte ihr Vater: „Die Schule ist zum Lernen da und nicht zum Ärgern. Nimm das alles nicht so ernst, Minna.“

 

Bestimmt würde er das auch dieses Mal wieder sagen.