Die unseligen Fleischbällchen

Ich bin nicht besonders mutig, aber auch nicht total bescheuert. Darum war ich extra eine Stunde früher in die Schule gegangen. Auf keinen Fall wollte ich nämlich Kotze und seiner Gang begegnen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass diese widerlichen Typen schon da waren. Oder noch immer? Als ich durch das Schultor trat, torkelte die Gruppe bereits auf mich zu, Kotze vorneweg. Er hatte eine halbleere Flasche irgendwas in der Hand.

 

„Rück die Kröten raus, Alter!“ Eine Alkoholfahne wehte mir ins Gesicht. Und möglicherweise war es das, was das Fass zum Überlaufen brachte. Denn anstatt mich wie sonst brav in mein Schicksal zu fügen und zu zahlen, spürte ich eine bodenlose Wut in mir aufsteigen. Sie kam tief aus dem Bauch und wollte sich gerade Luft machen, als mir aufging, dass ich gegen die „Fiesen Vier“, so nannte sich Kotzes Bande, nicht den Hauch einer Chance hatte. Also traf ich eine blitzschnelle Entscheidung: Ich war selbst überrascht, als ich plötzlich rannte, was das Zeug hielt.

 

Was ich allerdings nicht bedacht hatte war, dass ich vom Schultor aus über den Hof nur ins Schulgebäude hinein laufen konnte. Und so rannte ich geradewegs in die Falle. Kotze und die anderen Blödiane waren für einen Moment verblüfft, fingen sich aber rasch und liefen mir hinterher. Sie waren mir dicht auf den Fersen. Ich war einen Tick schneller, wahrscheinlich aus Verzweiflung, aber meine Verfolger waren drei Jahre über mir und entsprechend größer. Am Ende würden sie den längeren Atem haben.

 

„Gleich kriegen wir dich, du Weichei!“, hörte ich Kotzes kratzige Stimme im Rücken.

 

Ich hechtete durch die Eingangshalle, vorbei an der Büste von Mahatma Gandhi, nach dem unsere Schule benannt ist. Ein bisschen Gewaltlosigkeit wäre jetzt ganz schön, dachte ich, als ich hechelnd links in den langen Flur einbog.

 

„Stehenbleiben!“, schnaubte Kotze. „Wir haben keine Lust mehr, dir hinterherzulaufen! Wenn du nicht sofort stehenbleibst, wirst du doppelt bezahlen!“

 

Kotze, der eigentlich Konstantin hieß und schon zwei Mal sitzen geblieben war, klang so sauer wie noch nie. Ich rannte an den Klassenzimmern vorbei bis zur Treppe und hastete nach oben, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Ich hörte die Bande näher herankeuchen. Im ersten Obergeschoss angekommen wollte ich gleich weiter hoch ins zweite, denn da war das Zimmer des Direktors. Vielleicht hatte ich ja einmal im Leben Glück und er war schon da. Dann hätte diese Verfolgungsjagd ein Ende – fürs Erste.

 

Da sah ich, wie sich gleich neben der Treppe eine Tür einen Spaltbreit öffnete. War hier doch schon jemand? Ein Lehrer, der seinen Unterricht vorbereitete? Unmöglich, unsere Lehrer waren alle so faul, die kamen entweder zu spät oder gar nicht. Aber die Hoffnung siegte, ich zwängte mich durch den einladenden Türspalt, schloss so leise wie möglich die Tür und hielt den Atem an.

 

Kotze und die anderen polterten die Treppe herauf. Würden sie weiter nach oben rennen oder mich hier auf dem Flur suchen? Ich hörte sie kurz innehielten. Und dann wieder ihre Schritte, die sich entfernten. Sie waren also zu dem gleichen Schluss gekommen wie ich, dass das Büro des Direx um diese Uhrzeit meine einzige Rettungsmöglichkeit war.

 

Ich wischte mir einen Schweißtropfen von der Schläfe und sank mit dem Rucksack an die Tür gepresst zu Boden. Wie lange würde es dauern, bis sie dahinter kamen, dass ich in einem der Klassenräume war? Es konnte sich nur um Minuten handeln.

 

Mein Herz pochte wie wild. Erst jetzt merkte ich, dass es um mich herum komplett dunkel war. Ich holte mein Handy aus der Hosentasche und machte das Licht an. Ach, der Bio-Vorbereitungsraum. Hier standen alle Utensilien, die Frau Vogelflug (sie hieß wirklich so), im Unterricht benutzte: Regale mit Einmachgläsern undefinierbaren Inhalts, Mikroskope, leere Terrarien und natürlich Frau Vogelflugs Sammlung ausgestopfter Marder oder Wiesel oder was das war. In einer Ecke hing Fridolin, das Skelett. Es grinste mich blöde an. Das kleine Zimmer hatte nur ein Fenster, das von einem schweren, samtenen Vorhang verdeckt wurde. Ich leuchtete von Fridolin zurück in die Mitte des Raumes, wo ein großer, antiker Schrank thronte.

 

Und da hörte ich es. Ein leises Schnaufen drang aus dem Schrank, während er kaum merklich zitterte. Ich rappelte mich auf und ging die drei Schritte zum Schrank hin. Obwohl ich noch immer überlegte, wo Kotzes Gang wohl gerade war und wann sie mich finden würden, hatte mich die Neugier gepackt. Befand sich in dem Schrank vielleicht ein lebendes Tier für den Bio-Unterricht? Ich drehte den kleinen goldenen Schlüssel im Schloss um und öffnete die Tür.

 

Im Schrank war nichts. Und doch war da etwas. Das Etwas raschelte und stieß einen tiefen Seufzer aus. Vor Schreck ließ ich mein Handy fallen, das mit einem Klirren auf dem Boden zersprang. Jetzt war es stockdunkel im Zimmer. Das heißt, es wäre stockdunkel gewesen, wenn da nicht dieses blasse, zerbrechlich wirkende Mädchen im Schrank gesessen hätte, von dem ein seltsam helles Leuchten ausging. Sie trug ein altmodisches Matrosenkleid. Die Haare hatte sie zu zwei langen Zöpfen geflochten. Unsicher blickte sie mich an.

 

Ich konnte mich nicht vom Fleck rühren. Merkwürdigerweise sah das Mädchen ebenso erschrocken aus wie ich.

 

„Äh … hallo“, stammelte ich.

 

„Guten Morgen“, sagte sie zaghaft.

 

„Ich heiße Nick“, sagte ich, „und wer bist du?“

 

„Elisabeth“, antwortete sie mit dem dünnsten aller dünnen Stimmchen. „Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen, Nick.“

 

Danach sagten wir eine Zeitlang gar nichts. Meine Gedanken überschlugen sich. Es war offensichtlich, dass Elisabeth kein Mensch aus Fleisch und Blut war. Neben dem überirdischen Leuchten, das von ihr ausging, schien sie außerdem irgendwie durchsichtig zu sein, so als ob sie zur Hälfte aus Nebel bestehen würde. Was sie genau war, traute ich mich allerdings nicht zu fragen.

 

Elisabeth schien meine Gedanken zu erraten. „Du wunderst dich sicher, wer ich bin. Ich bewohne die Geisterwelt. Normalerweise unterhalte ich mich allerdings nicht mit Menschen.“

 

Ich hielt den Atem an. „Du bist also ein Gespenst?“

 

Sie nickte.

 

„Warst du … warst du denn mal ein Mensch?“

 

„Ja, vor langer Zeit.“

 

„Und wie alt bist du?“

 

„Hm …“ Sie überlegte. „Da ich meine Geburtstage nicht mehr feiere, kann ich es nicht genau sagen. Ich erinnere mich aber, dass ich während des Weltkrieges hier ins Annette-von-Droste-Hülshoff-Lyzeum gegangen bin.“

 

„Während des ersten oder während des zweiten Weltkrieges?“

 

Elisabeth machte große Augen. „Es gab einen zweiten Weltkrieg?“

 

„Äh, ja“, sagte ich, „und die Schule heißt inzwischen Mahatma-Gandhi-Gymnasium. Aber was ist denn mit dir passiert, dass du jetzt … na ja, dass du jetzt hier bist?“

 

„Es waren die Fleischbällchen“, sagte sie mit ihrer leisen, zittrigen Stimme, die nun einen dramatischen Unterton annahm. „Einmal gab es zur Mittagsmahlzeit Fleischbällchen. Ich saß wie immer allein an einem Tisch ganz hinten im Speisesaal und aß die Fleischbällchen. Und dann habe ich mich verschluckt. Ich bekam keine Luft mehr und weil ich so weit weg saß, hat es keines der anderen Mädchen bemerkt. Und mit einem Mal schwebte ich über den Tischen und sah mich selbst mit der Stirn in meiner letzten Mahlzeit liegen. Und das Schlimmste ist, dass mir diese unseligen Fleischbällchen noch nicht einmal geschmeckt haben.“ Sie lachte bitter. „Aber das ist lange her. Sehr lange.“

 

Ich schluckte. Noch heute gab es in der Mensa jeden Dienstag Fleischbällchen, und noch immer waren sie absolut ekelerregend. Ich wollte es Elisabeth erzählen, aber dann erschien es mir angesichts ihrer Situation irgendwie unpassend. Stattdessen fragte ich: „Aber wenn du gestorben bist und dich dann niemand beim Wegschweben gesehen hat, wieso kann ich dich dann jetzt sehen?“

 

„Weil es dunkel ist“, antwortete Elisabeth, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt.

 

Wir schwiegen eine Weile. Schließlich fragte ich: „Und warum bist du immer noch hier? In der Schule, meine ich. Müsstest du nicht ins Jenseits weitergezogen sein oder so was?“

 

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es leider nicht. Es heißt, man darf nicht fort, wenn man auf Erden noch etwas Wichtiges zu erledigen hat. Ich habe aber keinen blassen Dunst, was das sein könnte. Ich sitze einfach hier im Schrank und warte.“

 

„Kommst du denn nie raus aus dem Schrank?“

„Pfff“, machte Elisabeth. „Ich bin keines von den Gespenstern, die die ganze Nacht kopflos umherflattern und mit Schlüsselbunden rasseln!“ Sie klang jetzt richtig pikiert. „Ich habe eben am liebsten meine Ruhe. Ist das so verwerflich?“

 

„Nein, nein“, beschwichtigte ich sie, „das kann ich gut nachvollziehen.“

 

So als ob sie das Thema wechseln wollte fragte sie: „Und du, Nick, was machst du hier, um diese Uhrzeit?“

 

Mit einem Mal spürte ich wieder die Angst im Bauch. „Ich, äh, ich verstecke mich vor einer Bande.“

 

„Vor einer Ganovenbande?“

 

„So ähnlich.“ Mir kam eine Idee. „Kannst du mir nicht helfen, Elisabeth? Wenn du die Typen ein bisschen erschreckst, lassen sie mich vielleicht in Ruhe.“

 

Ein silbriger Glanz stieg in Elisabeths weißes Gesicht. Es sah fast so aus, als ob sie erröten würde.

 

„Tut mir leid, Nick. Das kann nicht gelingen. Ich … ich bin sehr schüchtern. ‚Ein Hasenfuß vor dem Herrn‘, hat unsere Oberstudienrätin immer gesagt.“ Sie sah jetzt richtig traurig aus. „Mit der Bande musst du allein fertig werden.“

 

Ich versuchte, mir die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. „Ist schon okay“, murmelte ich. Da hörte ich Schritte herankommen.

 

„Er muss hier auf dem Flur sein!“ Kotzes wütende Stimme zerschnitt den Moment und ließ mein Herz schneller schlagen. Ich drehte mich zur Tür, die im gleichen Augenblick aufgerissen wurde. Kotze und die anderen standen als dunkle Schatten im Türrahmen, beleuchtet vom Tageslicht, das durch die Flurfenster fiel. Ich warf einen kurzen Blick über die Schulter: Elisabeth war nicht mehr zu sehen. Klar, es war viel zu hell.

 

„Jetzt haben wir dich“, sagte Kotze und kam auf mich zu. Er packte mich am Genick und stieß mich zu Boden. „Jetzt wirst du bezahlen, du Sackgesicht!“

 

Das Blut schoss mir in den Kopf und es flimmerte vor meinen Augen. Da hörte ich, wie die Tür ins Schloss fiel. Mit einem Schlag war es wieder dunkel. Ein schauriges Heulen ertönte. Unter Kotzes nachlassendem Griff drehte ich den Kopf zur Seite. Elisabeth schwebte etwa einen Meter über dem Boden und machte furchterregende Jaulgeräusche. Sie klang wie eine betrunkene Opernsängerin. Ihr zartes Gesicht hatte sie zu einer Grimasse verzogen. Es sah eher niedlich als gruselig aus, aber es funktionierte. Kotze ließ von mir ab und wich zurück.

 

Elisabeth schrie etwas, das ungefähr so klang wie „Steeerbeeen“. Das war zu viel für die Bande. Alle vier nahmen die Beine in die Hand und stürzten zur Tür hinaus. Ich stand auf und ging ihnen ruhigen Schrittes hinterher, um die Tür zu schließen. Etwas in mir lachte: Wie angsterfüllt Kotzes Blick gewesen war, als Elisabeth ihn in die Flucht geschlagen hatte! Ich drehte mich zu ihr um.

 

„Hey, das war echt super von dir. Vielen Dank.“

 

„Ach …“ Sie winkte ab. „Ich hätte selbst nicht gedacht, dass das so leicht geht. Dass ich mich das traue. Aber vier gegen einen, nein, das war wirklich nicht ehrenhaft. Diese Lausbuben hatten eine Abreibung verdient!“ Sie kicherte. „Weißt du was? Das hat mir sogar ein wenig Freude bereitet. Oh …“

 

Wir merkten es beide gleichzeitig. Elisabeth hatte die ganze Zeit schon nicht sonderlich solide gewirkt, aber jetzt verschwammen auch noch ihre Konturen und sie wurde immer heller und heller. Es war eindeutig: Das Gespenst war dabei sich aufzulösen. Und sie war davon genauso überrascht wie ich.

 

„Oh“, sagte sie noch einmal und dann huschte ein Lächeln über ihr durchscheinendes Gesicht. „Danke“, hauchte sie.

 

Das letzte, was ich von ihr sah, war ein sanftes Blinzeln. Dann war sie verschwunden und ich stand allein in nachtschwarzer Dunkelheit.